Neue Untersuchungen des überkonfessionellen christlichen Hilfswerks Open Doors zeigen eine «systematische Diskriminierung» von Christen, die vor den Extremisten von Boko Haram in Nigerias nordöstlichem Bundesstaat Borno fliehen mussten. Der Bericht «No Road Home» beleuchtet beispielhaft die Situation in Borno sowie im zentralnigerianischen Bundesstaat Plateau und basiert neben Kontextrecherchen auf Interviews mit vertriebenen Überlebenden, von denen einige die brutale Ermordung ihrer Ehepartner mitansehen mussten, weil sie nicht zum Islam konvertiert waren. Er zeigt auf, dass Christen in provisorischen Lagern regelmässig Hilfe verweigert wird - manchmal lediglich, weil sie christlich klingende Namen haben.
Millionen Vertriebene allein im Bundesstaat Borno
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen sind mehr als zwei Millionen Menschen im Nordosten Nigerias vor allem wegen gewalttätiger extremistischer Angriffe vertrieben worden. In Borno leben 80 Prozent der Vertriebenen in dieser Region.
John Samuel*, Rechtsexperte von Open Doors für Subsahara-Afrika, erklärt: «Unsere Untersuchungen zeichnen ein schockierendes Bild der Lebensbedingungen der Christen, deren Leben bereits durch verheerende Angriffe von Terroristen wie Boko Haram und ISWAP (Westafrikanischer Zweig des Islamischen Staates) massiv erschüttert wurde. Unser Bericht zeigt, dass Christen in Lagern, die speziell für Binnenvertriebene (IDPs) eingerichtet wurden, systematisch diskriminiert, gezielt vernachlässigt und ausgegrenzt werden.»
Immer wieder hörten wir von Überlebenden, dass Christen absichtlich die «weisse Papierkarte» verweigert wird, die ihre Berechtigung für den Erhalt humanitärer Hilfe von der Landesregierung nachgewiesen hätte. Wir haben gehört, wie Christen in der Hoffnung auf Nahrung tagelang Schlange stehen, um letztlich dennoch abgewiesen zu werden.
Uns wurde berichtet, dass Unterstützungsgutscheine oft an traditionelle Führer vergeben werden, die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft bevorzugen und Christen übergehen. Die Verteilung von Hilfsgütern wird häufig Sonntagvormittag geplant, was bedeutet, dass Menschen, die einen Sonntagsgottesdienst besuchen, leer ausgehen.
Christen sind keineswegs die einzigen Menschen, deren Leben von Boko Haram und anderen Terroristen entwurzelt und destabilisiert wurde. Die Verwundbarkeit der Christen, die in vielen nördlichen Bundesstaaten Nigerias ohnehin schon als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, wird durch die Angriffe islamistischer Extremisten jedoch noch erheblich verstärkt.»
Kein Zugang zu Lagern für Christen
Der Bericht «No Road Home: Christian Internally Displaced Persons (IDPs) Displaced by Extremist Violence in Nigeria» (Kein Weg nach Hause: Christliche Binnenvertriebene, die durch extremistische Gewalt in Nigeria vertrieben wurden) stellt fest, dass Christen in Borno «die Verantwortung für ungerechte Behandlung und glaubensbedingte Diskriminierung bei der lokalen Regierung und Amtsträgern sehen, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Unterkünften, humanitärer Hilfe, Bildung und Beschäftigung.»
Einige Überlebende sahen keinen anderen Weg, als zum Islam zu konvertieren oder ihren Glauben bewusst zu verbergen, um Zugang zu den verfügbaren Hilfsangeboten zu erhalten. Ein christlicher Binnenvertriebener aus dem Regierungsbezirk Gwoza erzählt: «Es gibt viele verschiedene Lager. Sobald man ein Lager betritt und sie herausfinden, dass man Christ ist und man nicht konvertiert und Muslim wird... muss man das Lager verlassen. Als die Christen nach Maiduguri (Anm.: die Hauptstadt des Bundesstaates) kamen und begannen, in die Lager zu gehen, mussten sie konvertieren, wenn sie keine Muslime waren. Man musste erst konvertieren, bevor man im Lager aufgenommen wurde.»
Ein Mitarbeiter einer humanitären Organisation berichtete den Forschern darüber hinaus, dass die Namen der vertriebenen Christen zwar in den Bewertungen der Gefährdung aufgeführt sind, bei der Verteilung der Hilfe aber durch die Namen von Muslimen ersetzt werden.
Aufgrund der Schwierigkeiten in den offiziellen, von der Regierung errichteten Lagern leben die Christen grösstenteils entweder in informellen Lagern oder in den umliegenden Dörfern, die bereit sind, sie aufzunehmen. Auch in diesem Umfeld ist es schwierig, Lebensmittel zu bekommen, da die Überlebenden berichten, dass die Regierung des Bundesstaates viele Organisationen daran hindert, dort Hilfsgüter zu verteilen.
Rückkehr bringt neue Gefahren
An eine Rückkehr nach Hause ist oft gar nicht zu denken. Open Doors-Experte Samuel stellt fest: «Christen, die es wagen, eine Rückkehr in die Dörfer, aus denen sie geflohen sind, auch nur in Erwägung zu ziehen, müssen mit einer Vielzahl von Gefahren rechnen. Einige Gebiete sind jetzt Boko-Haram-Hochburgen, andere sind zu Schlachtfeldern zwischen Aufständischen und der nigerianischen Armee geworden, wieder andere sind mit Landminen übersät, und in einigen Gebieten wurden muslimische Binnenvertriebene genau dort angesiedelt, wo einst christliche Gemeinschaften lebten.
Selbst wenn es den Christen gelingt, nach Hause zurückzukehren und ihre Landwirtschaften weiterzuführen, sind sie anfällig für erneute Angriffe. Extremisten können Menschen zum Wehrdienst zwingen, oder wenn Christen entführt werden, müssen sie höhere Lösegeldforderungen erfüllen als ihre muslimischen Mitbürger. In anderen Fällen verlangen islamistische Terroristen von den Rückkehrern die Zahlung der Dschizya-Steuer - eine Art Schutzgeld - dafür, dass sie sowohl die Landwirtschaft betreiben als auch die Ernte einholen können.»
Nach Angaben der Befragten sind Entführungen ein zentrales Sicherheitsrisiko im gesamten Bundesstaat Borno. Obwohl dies auch für Muslime ein Risiko darstellt, erklären die Befragten, dass ISWAP für christliche Entführte höhere Lösegelder verlangte als für Muslime, manchmal sogar doppelt so viel. Für Geistliche und Pastoren waren die Lösegeldforderungen noch höher.
Eindringlicher Appell zur Gleichbehandlung und Unterstützung
Nigeria liegt auf Rang sechs des aktuellen Weltverfolgungsindex von Open Doors, der jährlich veröffentlichten Rangliste der Länder, in denen Christen aufgrund ihres Glaubens am stärksten verfolgt und diskriminiert werden.
«Im Lichte unseres Berichts appellieren wir an die nigerianische Regierung, die Regionalregierung des Bundesstaates Borno aufzufordern, dafür zu sorgen, dass alle Binnenvertriebenen unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung die notwendige Unterstützung erhalten«, fasst John Samuel die Ergebnisse des Berichts zusammen. «Wir rufen die Hilfsorganisationen vor Ort dazu auf, die lokalen christlichen Leiter und Organisationen in die Entscheidungsfindung und Koordinierung der humanitären Hilfe einzubeziehen.
Darüber hinaus reichen die derzeitigen Programme und Finanzmittel nicht aus, um den durch die eskalierende Krise in Nigeria verursachten Bedarf zu decken. Wir fordern die internationalen humanitären Organisationen auf, anzuerkennen, wie die religiöse Überzeugung der Binnenvertriebenen ihre Gefährdung erhöhen kann. Weiters fordern wir, dass die religiöse Bildung der Mitarbeiter der Vertriebenenlager, Hilfsorganisationen und Behörden gefördert wird, um eine diskriminierende Behandlung zu verhindern, die gegen grundlegende humanitäre Prinzipien verstösst, und um eine Gleichbehandlung unabhängig von Alter, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung zu gewährleisten.»
* Name aus Sicherheitsgründen geändert
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